
Schrumpfende Mittelklasse
Die Einkommen sind immer ungleicher verteilt. Das zeigt die Forschung der beiden UZH-Ökonomen David Dorn und Nir Jaimovich. Die wichtigsten Treiber dafür sind Technologie und Globalisierung. Die Schweiz tanzt allerdings etwas aus der Reihe.
Text: Thomas Gull
Die Arbeitswelt in den USA und Westeuropa hat sich in den letzten 30 Jahren rasant verändert. Zuerst gingen viele traditionelle Jobs in der Industrie verloren. Einerseits weil es billiger ist, in China oder anderen Schwellenländern zu produzieren, andererseits weil ein Roboter die Arbeit gleich gut oder besser machen kann als ein Mensch und erst noch günstiger. Besonders ausgeprägt war diese Entwicklung in den USA, wo innerhalb von zehn Jahren – zwischen 2000 und 2010 – die Zahl der Arbeitsplätze in der traditionellen Industrie um ein Drittel zurückgegangen ist.
Mittlerweile macht der technologische Fortschritt nicht nur Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter zunehmend überflüssig, sondern auch mittelständische Berufe mit repetitiven Tätigkeiten wie etwa Sekretariats- und Administrationsarbeit. Intelligente Computerprogramme können heute so trainiert werden, dass sie nicht nur manuelle, sondern auch kognitive Aufgaben erledigen können, wenn diese klar definiert sind und sich ständig wiederholen.
Weniger Jobs, tiefere Löhne
Diese Art von Beschäftigung wird von der Wissenschaft als Routinearbeit bezeichnet, im Gegensatz zu Nicht-Routinearbeit. Solche kann intellektuell oder manuell sein. Wichtig ist, dass es sich um Arbeit handelt, die eine gewisse Flexibilität im Denken und Handeln erfordert. Das können die Maschinen (noch) nicht so gut. Deshalb ist es viel schwieriger, hier Menschen durch intelligente Systeme zu ersetzen.
Die Konkurrenz der Maschinen hat dazu geführt, dass es immer weniger dieser Mittelklasse-Arbeit gibt, die ein Mittelklasse-Einkommen generiert. «Es gibt nicht nur weniger solche Jobs», sagt Nir Jaimovich, «auch die Löhne in diesem Bereich sind gesunken.» Jaimovich ist Ökonomieprofessor an der UZH und hat lange in den USA gearbeitet und die Entwicklung dort analysiert.
Gleichzeitig mit diesem Arbeitsplatz- und Statusverlust der Mittelklasse-Arbeit gibt es einen zweiten Trend, der in die andere Richtung weist: Arbeitskräfte, die anspruchsvolle kognitive Arbeit machen, verdienen tendenziell mehr. Gleichzeitig gibt es in diesem Bereich auch neue Arbeitsplätze. «Dieses Segment profitiert vom technologischen Wandel, weil die Technologie ihre Arbeit nicht ersetzt, sondern produktiver macht», erklärt Nir Jaimovich.
Diese beiden gegenläufigen Entwicklungen führen dazu, dass sich die Einkommensschere bei den Arbeitnehmenden immer weiter auftut. Gleichzeitig muss ein Teil von ihnen, die bislang relativ gut bezahlte Routinearbeit machen konnten, in andere, weniger gut bezahlte Arbeitsfelder ausweichen. Oder diese Leute fallen ganz aus dem Arbeitsmarkt. In den USA ist der Anteil der Arbeitnehmenden in solchen Routinejobs seit 1980 um einen Fünftel gefallen. Die schlechte Nachricht ist: Der Verlust dieser Arbeitsstellen führt meist zum sozialen Abstieg aus der Mittelklasse: Ein Drittel der ehemaligen Beschäftigten in diesen Mittelklasse-Jobs verdient heute weniger. Zwei Drittel sind nicht mehr erwerbstätig.
Job-Polarisierung
Die Ökonomen bezeichnen diese Entwicklung als Job-Polarisierung, wobei die beiden Pole der gut und der schlecht Bezahlten immer weiter auseinanderdriften, während die Mitteklasse, die die beiden verbindet, schrumpft.
Nir Jaimovich hat vor allem die Entwicklung in den USA untersucht. Doch in Europa, insbesondere in Deutschland sehe man ebenfalls wachsende Einkommensungleichheit und Job-Polarisierung, erklärt David Dorn, Professor für Globalisierung und Arbeitsmärkte an der UZH. Dorn und Jaimovich sind Mitglieder des Universitären Forschungsschwerpunkts (UFSP) «Equality of Opportunity», der solche Fragen erforscht.
«Die Schweiz hat es geschafft, sich diesen Trends teilweise zu entziehen», sagt David Dorn. Zwar sind auch hierzulande gewisse Mittelklasse-Berufe geschrumpft, aber die Einkommensschere hat sich nicht deutlich geöffnet.
Dorn nennt dafür folgende Gründe: In der Schweiz gibt es schon länger keine Tieflohn-Industrie mehr; die Arbeitnehmenden sind besser ausgebildet als anderswo und können sich deshalb einfacher neu orientieren; und die Schweiz hat nach wie vor eine sehr erfolgreiche Exportindustrie in Bereichen, wo Innovation und Qualität wichtiger sind als der Preis.
Zum Beispiel Pharma, Luxusgüter, Präzisionsmaschinen oder, eher überraschend, Kaffee, wo die Schweiz dank der innovativen Kapselsysteme weltweit zweitgrösser Exporteur ist. Diesen Schweizer «Sonderweg» kann Dorn auch bei der Entwicklung der Löhne zeigen. Während in den USA die Einkommen der ärmsten 10 Prozent seit 1980 zurückgingen, sind sie in der Schweiz im Gleichschritt mit mittleren und höheren Einkommen gestiegen. Auf der anderen Seite der Skala sind die Einkommen des obersten Prozents in beiden Ländern am stärksten gewachsen, in den USA jedoch doppelt so schnell wie in der Schweiz.
Wenn wir nach Europa schauen, stellt sich die Frage, weshalb sich die Dinge in Deutschland anders entwickelt haben als in der Schweiz. Dorn macht dafür den Lohndruck aus Osteuropa und die Schwächung der Gewerkschaften verantwortlich, während in der Schweiz die Arbeitnehmenden und das Kleingewerbe möglicherweise einen gewissen «Konkurrenzschutz» geniessen, weil die Schweizer Löhne auch an aus dem Ausland entsendete Arbeiter bezahlt werden müssen, die in der Schweiz arbeiten.
Superstar-Firmen sind profitabler
David Dorn hat auch eine andere Entwicklung analysiert, die ebenfalls zu mehr Ungleichheit führt. Er hat den Aufstieg von grossen «Superstar»-Firmen studiert wie Google, Amazon oder den Discounter Walmart in den USA. In Europa sind es die grossen Pharmaunternehmen und Banken, Autofirmen wie VW oder Stellantis, ein Zusammenschluss von Firmen wie Peugeot, Citroën, Chrysler und Fiat, oder der Discounter Aldi. In der Schweiz gehören Roche, Novartis oder Nestlé in diese Kategorie.
Diese Superstars haben in ihren Branchen eine starke, manchmal marktbeherrschende Stellung, die sie erreichen, weil sie technologisch gut aufgestellt und innovativ sind. «Das verschafft ihnen verschiedene Vorteile», sagt David Dorn, «nicht zuletzt sind sie in der Regel profitabler.» Dank der höheren Produktivität können diese Firmen ihre Produkte günstiger anbieten als die Konkurrenz. Gleichzeitig sind aber ihre Gewinnmargen höher.
Bildlich gesprochen hat es bei grossen Firmen, die effizient arbeiten, mehr Rahm auf der Milch, der dann von den Eignern in Form von satten Gewinnen abgeschöpft werden kann. Die höheren Gewinne fliessen in der Regel in die Taschen der Besitzer und Investoren. Die Arbeitnehmenden profitieren kaum davon. «Das verschiebt die Verteilung der Einkommen zugunsten des Kapitals», sagt David Dorn. Diese Entwicklung lässt sich gut nachverfolgen, indem man vergleicht, wie hoch der Anteil der Arbeit an der Wertschöpfung der Unternehmen ist.
In der EU betrug der Anteil der Arbeitnehmenden am Kuchen in den 1970er-Jahren rund 75 Prozent, 2010 waren es noch 65. In den USA ist der Anteil von gut 65 auf unter 60 Prozent gesunken. In der Schweiz pendelt dieser Wert zwischen 65 und 70 Prozent. Ein stetiger Rückgang des Anteils der Arbeit am Firmeneinkommen wie in der EU und den USA zeigt sich aber nicht. «Der Aufstieg der Superstar-Firmen trägt zur wachsenden Ungleichverteilung der Einkommen bei», bilanziert David Dorn, «weil die Kapitaleinkommen bei einer kleineren Bevölkerungsschicht konzentriert sind als die Arbeitseinkommen.»
Beide Entwicklungen, der Aufstieg der Superstar-Firmen und der technologische Wandel kombiniert mit der Globalisierung, verstärken die Ungleichheit. Ist dieser Prozess nicht aufzuhalten? Nir Jaimovich hat verschiedene Strategien evaluiert, die helfen könnten, den Abstieg der Arbeitnehmenden aus der Mittelklasse zu verhindern: Umschulungen, Erhöhung der Arbeitslosenversicherung, ein garantiertes Grundeinkommen und tiefere Steuern auf manuelle Arbeit. Wie sich zeigt, sind Umschulungen das effizienteste Mittel. «Sie erhöhen die Chancen, wieder eine Stelle zu finden, und sie verbessern den Output der gesamten Volkswirtschaft», bilanziert Jaimovich. Allerdings haben selbst solche Programme Nachteile: Sie sind teuer. Und sie erhöhen die Konkurrenz für die Arbeitnehmenden in den Bereichen, für die sich die Umgeschulten neu qualifizieren.
Wenn es um einen Blick in die Zukunft geht, ist Jaimovich nicht besonders optimistisch: «Die Job-Polarisierung wird sich wohl eher noch beschleunigen», vermutet er. Was den Einfluss der Automatisierung auf unsere Arbeitswelt betrifft, so sieht er zwei mögliche Entwicklungen: «Entweder gehen alle Jobs verloren, die automatisiert werden können. Oder die Automatisierung gibt uns die Gelegenheit, uns in Bereichen zu spezialisieren, wo wir besser sind als die Maschinen. Diesen überlassen wir dann die mühsame Routinearbeit.»
Missbrauch des Monopols
Bei den Superstar-Firmen stellt sich auch die Frage, ob und wie der Staat intervenieren soll. David Dorn ist der Meinung, der Staat sollte sich vor allem einschalten, wenn Firmen ihre starke Stellung missbrauchen: «Grosse Firmen, die ihre Monopolstellung ausnutzen, um unverhältnismässig hohe Gewinne zu erwirtschaften oder um Bewerber aus dem Markt zu drängen, sind nicht wünschenswert.» «Da muss die Wettbewerbspolitik Gegensteuer geben und eine solche Firma in ihrem Marktverhalten einschränken», sagt Dorn.
Sein zweiter Vorschlag geht in die gleiche Richtung wie die Studie seines Kollegen Jaimovich: Wer seine Stelle verliert, dem sollten durch Umschulung neue Perspektiven eröffnet werden. Und schliesslich sollte die Ungleichheit unter den Einkommen durch Steuern und staatliche Transferleistungen ausgeglichen werden. Dorn hat jedoch einen Vorbehalt: «Erfolgreiche Firmen tragen dazu bei, dass wir wohlhabender werden. Deshalb müssen Eingriffe so gestaltet sein, dass sie die wirtschaftliche Entwicklung nicht behindern und weiterhin genügend Anreize bestehen, sich als Unternehmer zu engagieren.»
Universitärer Forschungsschwerpunkt
Gleiche Chancen
Die steigende ökonomische und soziale Ungleichheit ist eine Herausforderung für Gesellschaften, die sich für demokratische und meritokratische Ideale einsetzen. Der Universitäre Forschungsschwerpunkt (UFSP) «Equality of Opportunity» (Chancengleichheit) erforscht die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, die zu Ungleichheit in der Gesellschaft führen, und evaluiert Strategien, die die Chancengleichheit verbessern.
Der UFSP bringt drei Fakultäten und sechs akademische Disziplinen zusammen: Ökonomie, Recht, Politologie, Geschichte, Soziologie und Philosophie. Mit dieser interdisziplinären Expertise wird in drei Forschungsmodulen Hand in Hand gearbeitet: Das Modul «Ökonomische Veränderung» analysiert, wie sich Strukturveränderungen in der Wirtschaft, angetrieben etwa durch die Automatisierung, auf die Verteilung des Wohlstands in der Gesellschaft auswirken. Das Modul «Soziale Veränderung» fragt, wie soziale Normen die Wahrnehmung von Ungleichheit beeinflussen und wie sich das auf die Politik auswirkt. Das dritte Modul «Staatliche Interventionen» erforscht, wie Regierungen die Gleichheit fördern können.