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Das Genom – Vom Labor ins Leben

Das menschliche Genom steht kurz vor der Entschlüsselung. Forscher setzen damit einen wissenschaftlichen Meilenstein, der nicht nur medizinische, sondern auch soziale, ethische und politische Fragen aufwirft. Das aktuelle unimagazin «Das Genom. Vom Labor ins Leben» beschäftigt sich mit den möglichen Konseqenzen der Genomanalyse auf das Individuum und die Gesellschaft.

Das Genomprojekt

Vom Labor in die Lebenswelt. Das menschliche Genom steht kurz vor der vollständigen Entschlüsselung. Forscher setzen damit einen wissenschaftlichen Meilenstein, der nicht nur medizinische, sondern auch soziale, ethische und politische Fragen aufwirft. Welche Auswirkungen die Analyse des menschlichen Genoms auf die Gesellschaft ausübt, beschäftigt auch die Wissenschaft und ihre Disziplinen. Die Universität bemüht sich deshalb um einen gesellschaftlichen Diskurs, der sowohl die Interessen des Individuums als auch der Wirtschaft und der Gesellschaft beleuchtet. Im aktuellen unimagazin kommen Vertreter der naturwissenschaftlichen, der juristischen und der geisteswissenschaftlichen Fakultäten zu Wort. In einem einführenden Artikel weist Bruno Staffelbach auf die Wichtigkeit der transdisziplinären Auseinandersetzung mit der Thematik innerhalb der Wissenschaften hin.

Die Entzifferung des menschlichen Genoms

Das Human-Genom-Projekt hat die Entschlüsselung aller Gensequenzen im menschlichen Genom zum Ziel. Seit wenigen Wochen ist die Gensequenz der Chromosomen 21 und 22 bekannt. Vor zwei Jahren startete der amerikanische Forscher Craig Venter ein Projekt zur Entschlüsselung der gesamten menschlichen Erbsubstanz mit einer Methode, die bereits bei der Sequenzierung des Genoms der Taufliege erfolgreich war. Durch die genauen Kenntnisse der Genome von Fadenwurm, Bierhefe und Taufliege ist Venter der Entschlüsselung des menschlichen Genoms auf der Spur. Skeptiker sprechen bei der Methode Venters eher von einer Rohfassung des Genoms. Der Autor Martin Hergersberg vom Institut für Medizinische Genetik gibt in seinem Artikel Antworten auf die Fragen: Was sind Gene? Mit welchen Methoden wird das Genom entziffert und wie weit ist die Forschung?

Gene beim Wort genommen

Dass die Individualität eines Menschen in seinen Genen steckt, weiss die Wissenschaft erst, nachdem ein englischer Arzt Anfang dieses Jahrhunderts merkte, dass es Krankheiten mit Familiengeschichte gibt. Doch der Begriff der Genetik war noch längst nicht geboren, sondern die Wissenschaft konzentrierte sich auf die Beobachtung von Erbsen, Fliegen und Viren. Ernst Peter Fischer, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Konstanz, erzählt die Geschichte eines Begriffes, der über Goethe zur Wissenschaft kam. Welche Schlüsse die Menschen aus ihrem Wissen über die Gene ziehen können, steht für den Autor jedoch noch in den Sternen. Denn die Genetik befinde sich in der Situation, in der die Kosmologie vor 100 Jahren war, ohne die Relativitätstheorie von Albert Einstein. Sinn mache die Entzifferung der Gene erst, wenn sie zum Studium des Menschen führt.

Sprengkraft der Genomanalyse

Unser Alltag wird durch das Wissen um unsere Gene ordentlich durchgeschüttelt. Stefan Beck vom Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität Berlin, sieht eine Entwicklung der Gesellschaft voraus, in der nicht der Mensch seine soziale Umwelt gestaltet, sondern die Umwelt den Menschen. In zunehmendem Masse werde das Leben durch technologische Innovationen beeinflusst und führe zu einer Abhängigkeit von Expertenwissen im Alltag, erläutert er. Die Stichworte «Risikogesellschaft» und «Enttraditionalisierung» stehen für eine Entwicklung, die dringend nach einer öffentlichen Unterrichtung in Sachen Genomanalyse ruft, die über den Bereich des blossen «Public Understanding of Science» hinausgeht.

Zur Lesbarkeit der Genetik

Der im letzten Jahr erschienene Erfolgsroman des französischen Autors Michel Houellebecq «Elementarteilchen» präsentiert eine düstere Diagnose des ausgehenden 20. Jahrhunderts: Der Zerfall tradierter Werte und die Vereinsamung des Individuums. Die zukünftige Gesellschaft wird in Houellebecqs Roman als «Welt eineiiger Zwillinge» dargestellt – eine Vision, die heute in der Gendebatte bereits diskutiert wird. Die Direktorin des Zentrums für Literaturforschung Berlin und vormals Germanistikprofessorin an der Universität Zürich, Sigrid Weigel, zeigt in ihrem Artikel auf, dass die literarische Fiktion dem wissenschaftlichen Diskurs nurmehr hinterherhinkt. Das Ende der Gattung Science fiction, wo das wissenschaftlich Unmögliche möglich wird, sieht Weigel in dem Moment, wo sich die Wissenschaft der literarischen Fiktion annähert – im Falle Houellebecqs Roman der Vision des menschlichen Klons.

Genetische Untersuchungen vor der Geburt

Der vorgeburtliche Test stellt die Gesellschaft moralisch vor eine Pattsituation. Das Anbebot der Untersuchungsmöglichkeiten verlangt von den Eltern eine wertende Stellungnahme zum werdenden Leben im Körper der Frau. Über die zu erwartende Lebensqualitiät des ungeborenen Kindes können jedoch nur Mutmassungen angestellt werden. Die Tests geben keine Auskunft über den genauen Grad einer Krankheit oder Behinderung. Schwangerschaftabbrüche aufgrund eines solchen Befundes werden in der Schweiz nur durchgeführt, wenn die Lebensumstände, die das Leben des Kindes mit sich bringt, für die Mutter nicht zumutbar sind. Die Autorin Ruth Baumann-Hölzle hält in ihrem Artikel fest, dass es bei dieser Entscheidung neben genetischem Wissen auch ethische und psychologische Beratungskompetenz braucht.

Kinderkrankheiten als Wegbereiter der Medizin

Viele Krankheitsprozesse beginnen bereits im Kindesalter. Zwar werden die klassischen Kinderkrankheiten dank Prophylaxe und wirksamer Behandlung zunehmend seltener. Dafür sind die genetischen Krankheiten im Vormarsch, stellt Beat Steinmann in seinem Artikel fest. Ein Prozent aller Neugeborenen sind Träger einer vererbten Störung. Die exakte Diagnose dieser Störungen erlaubt nebst einer möglichen Prävention oder zeitgerechter Korrektur von Komplikationen auch Einsichten in die Pathogenese. Anhand von drei Beispielen aus der Praxis der Molekularen Pädiatrie, wie beispielsweise dem Zwergwuchs (im Volksmund «Liliputaner»), zeigt der Autor auf, dass die Kinderheilkunde in diesem Bereich zur Mutterdisziplin für schwerste Krankheiten im Erwachsenenalter werden kann.

Genetik der Arzneimitteltherapie

Nicht jedes Medikament wirkt bei jedem Menschen gleich. Diese Tatsache erfahren viele Ärzte und Patienten täglich. Peter Meier-Abt und Bruno Stieger zeigen in ihrem Artikel auf, dass auch bei sorgfältiger Dosierung manche Medikamente bei gewissen Patienten nur eine ungenügende Wirkung haben. Bei anderen Patienten wiederum treten schon bei normaler Dosierung unerwünschte und toxische Wirkungen auf, die nicht selten ein Absetzen oder einen Wechsel des Medikamentes notwendig machen. Diese interindividuellen Unterschiede in der Arzneimittelwirkung sind im Wesentlichen durch Umweltfaktoren und genetische Faktoren bedingt. Diese können die Intensität und Dauer einer Arzneimittelwirkung auf verschiedenen Stufen beeinflussen. Das Fachgebiet, das sich mit den vererbten Unterschieden in der Arzneimittelwirkung befasst, ist die Pharmakogenetik.

Was das Volk über Genetik weiss

Welche Bedeutung haben Gene für die Entstehung von Krankheiten in populären Vorstellungen und in den Berichten der Massenmedien? Welche Einstellung hat die Bevölkerung zur pränatalen Diagnostik und zum Schwangerschaftsabbruch wegen genetischen Defekten? Welche sozialen Auswirkungen haben populäre Vorstellung und Einstellungen? Der Soziologe Peter C. Meyer geht in seinem Artikel diesen Fragen nach und gibt dabei Einblick in die soziologischen Perspektiven der Humangenetik. Soziologen sollten Grundlagen zu einer Verantwortungsethik erarbeiten, meint der Autor. Denn die Anwendungsmöglichkeiten der Genetik wie sie von Versicherungen und Arbeitgebern erwogen oder bereits durchgeführt werden können zu sozialer Ungleichheit, Stigmatisierung und Diskriminierung führen.

Risikoberichterstattung - Risikoperzeption

Wie die Informationstechnologie gilt auch die moderne Gentechnologie als eine der zukunftsweisenden Schlüsseltechnologien. Ökonomisch wird die Gentechnologie als Wachstumsindustrie betrachtet, die Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten generieren soll. Ihre Befürworter erwarten von ihr Basis-innovationen in der Landwirtschaft und im Nahrungs-mittelbereich, aber auch Impulse für den Forschungsplatz Schweiz. Die Medienöffentlichkeit wiederum konzentriert sich auf die zu erwartenden medizinischen Fortschritte und erhofften Erfolge im Bereich der Gentherapie. Die Gentechnologie ist jedoch auch umstritten und stösst in Teilen der Bevölkerung auf Widerstand. In der Risikoforschung hat man sich deshalb auf die Frage konzentriert, wie neue Technologien in der Bevölkerung wahrgenommen werden. In seinem Artikel gibt Heinz Bonfadelli Aufschluss darüber.

Katalysatorwirkung der Gentechnologie in der Öffentlichkeit

Lange hatte man kaum einen Gedanken daran verschwendet, wie die Wissenschaft von der Gesellschaft wahrgenommen wird. Erst im vergangenen Jahrzehnt sind Studien zum Thema Wahrnehmung der Wissenschaft durch die Öffentlichkeit gemacht worden. Katalysiert wurden diese vor allem durch die Reaktionen auf die Gentechnologie, mit deren zündendem Auftritt auch die Reproduktionsmedizin, die pränatale Diagnostik und die molekulargenetische Diagnostik ins Rampenlicht gerückt wurden. Die Ärztin für Medizinische Genetik, Suzanne Braga, fordert in ihrem Artikel, dass sich Forscher und Forscherinnen um Transparenz und eine verständliche Sprache bemühen müssen, damit die Gentechnologie von einer breiten Öffentlichkeit getragen wird.

Der Gentest als Prognosemaschine

Gentechnologie ist unabhängig von ihrer praktischen Anwendung immer auch eine Informationstechnologie. Sie dient beispielsweise zur Personenidentifikation, zur Bestimmung von Verwandschaftsverhältnissen oder zur Abklärung des Potentials von Erbkranheiten. Urs Dahinden beschreibt eine Umfrage, die über die Motive und Argumentationsmuster der Bevölkerung Aufschluss geben kann. Wieviel wollen Menschen überhaupt über ihre genetische Veranlagung wissen? Auf welche Informationen möchten sie bewusst verzichten? Die Befragung verschiedener Fokusgruppen kann mögliche Wege aufzeigen, wie Institutionen mit der Bevölkerung kommunizieren können.

Gentests in der Arbeitswelt - Ein Dilemma

Es ist nicht das erste Mal, dass der wissenschaftliche Fortschritt unerwartete Probleme schafft. Die Forschungsbemühungen der prädikativen Medizin hatten nicht auf die Arbeitswelt gezielt, doch haben sie dort neuen Möglichkeiten eröffnet. Genetische Analysen erweitern den indirekten Zugriff des Arbeitgebers auf einen bislang verschlossenen Intimbereich der Arbeitnehmer. Damit sind auch Probleme aufgetaucht, für die es noch keine Lösungsansätze gibt. Christof Baitsch geht in seinem Artikel auf die Problematik und die Folgen ein, wenn die Genomanalyse die Informationsgrundlagen für die Selektion und Laufbahnentscheidung in der Arbeitswelt beeinflusst.

Identifizierung der Tatverdächtigen

Die Identifizierung eines Straftäters mittels DNA-Fingerprinting gilt heute im Bereich der Kriminalistik als revolutionär. Ein einziger Zellkern, der am Tatort vorgefunden wird, genügt, um die Spur eines Verdächtigen zu sichern. Die Personenidentifizierung ist für Kriminalbehörden damit einfacher und eindeutiger geworden, erläutert Andreas Donatsch in seinem Artikel. Es fehlt allerdings eine rechtliche Regelung, wie die DNA-Datenbanken zu handhaben sind. Gestützt auf die Bundesverfassung soll deshalb ein Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen geschaffen werden. Da jedoch unbekannt ist, wie viel Zeit bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes verstreichen wird, bemühen sich auch kantonale Stellen um die Regelung des Umganges mit DNA-Datenbanken

Die Gefahrengemeinschaft

Das neue Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen wird den Versicherern verbieten, von ihren Kunden einen genetischen Test zu verlangen. Die Lebensversicherungs-Gesellschaften fürchten nun, dass durch das Verbot eine gebührende Risikoeinschätzung verunmöglicht wird. Denn schon heute können durch die Entschlüsselung des Erbgutes viele Krankheiten frühzeitig erkannt werden. Aus der Sicht der Versicherungs-Gesellschaft Swiss Re erläutern die beiden Autoren Jan von Overbeck und Beatrice Baldinger Pirotta den Einfluss der Gendiagnostik auf die Assekuranz und die möglichen Folgen einer inadäquaten Gesetzgebung.

Gene und Gesundheit

Der Basler Chemiekonzern Hoffmann-LaRoche setzt hohe Erwartungen in eine künftige genetisch orientierte Medizin. Die Firma investiert jährlich 14 Prozent ihres Umsatzes in die Forschung und Entwicklung. Beispielsweise koordiniert die «Roche Genetics» die Verwendung genetischer und genomischer Ansätze und Konzepte in Forschung und Entwicklung. Eine weitere Organisation («Integrated Health Care Solutions») bietet diagnostische Verfahren kombiniert mit geeigneten Therapeutika an. Aus der Sicht der Pharmaindustrie legt der Autor Klaus Lindpaintner dar, wie die Genetik den Pharmamarkt zukünftig verändern kann und wie die Firma Hoffmann-LaRoche den Forschungsschwerpunkt in diesem Bereich legt.

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