
Dem Stress die Stirn bieten
Ulrike Ehlert musste im Leben manch schwierige Situation meistern. Heute ist sie eine Grande Dame der psychobiologischen Stressforschung, die sich auch ganz praktisch damit beschäftigt, was Stress auslöst und was wir tun können, um ihn zu bewältigen.
Text: Simona Ryser
Die Psychologin kommt gerade vom Dorfladen. Den Weg macht sie zu Fuss, das sorgt für etwas Erholung zwischen der zuweilen stressigen Arbeit. Dieser entkommt Ulrike Ehlert auch während des Sabbaticals im Engadin nicht, wo sie Corona bedingt nun via Zoom Patientinnen und Patienten betreut und forscht. Der alltägliche Stress, der uns zuweilen belastet, ist eines der Forschungsgebiete von Ulrike Ehlert. Die Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie ist eine Grande Dame der psychobiologischen Stressforschung. Schon in ihren wissenschaftlichen Anfangszeiten an der Universität Trier hat sie die Achterbahnfahrten des Stresshormons Cortisol untersucht und Risiko- und Schutzfaktoren herausgeschält. «Stress entsteht in belastenden Situationen und kann sich je nach Resilienz entsprechend stark auf die Psyche auswirken und etwa Depressionen oder Angststörungen auslösen», erklärt Ehlert. Zudem gibt es bestimmte Lebensphasen, in denen die Hormone verrückt spielen. Gerade ist die Forscherin mit ihren Doktorandinnen daran, eine Längsschnittstudie auszuwerten, die darüber Aufschluss geben soll, wie sich das auf unser Wohlbefinden auswirkt. Sie selbst wirkt mit ihrer tiefen Stimme ziemlich stressresistent, wenn sie von ihrem Forschungsalltag erzählt.
Tanz der Sexualhormone
Die Faszination am ausgeklügelten Zusammenspiel von Hormonen und Psyche begleitet Ehlert schon ihr ganzes Wissenschaftsleben lang. So hat sie in mehreren Studien den Tanz der Sexualhormone Östrogen und Progesteron verfolgt, der das Leben mancher Frauen schwer macht. Dabei vergleicht sie die Hormonschwankungen vor und nach der Geburtsphase mit jener der Wechseljahre. Gezeigt hat sich, dass die Fluktuation entscheidend ist: Bei starken Östrogenschwankungen ist die Wahrscheinlichkeit für depressive Verstimmungen gross, ist der Progesteronspiegel leicht erhöht, bleibt die Frau eher resilient, widerstandsfähig. «Diese Erkenntnisse können wertvoll sein, um Depressionsepisoden auch in den späten Wechseljahren vorzubeugen», sagt Ehlert, die am universitären Forschungsschwerpunkt «Dynamik gesunden Alterns» beteiligt ist. In einem nächsten Schritt will die Psychobiologin die flatterhaften Hormone aus epigenetischer Sicht genauer untersuchen und herausfinden, welchen Einfluss die Umwelt auf die Funktion der Gene nimmt, die die Sexualhormone steuern. Ehlert schüttelt das wallende blonde Haar und lehnt sich im Stuhl zurück. Hinter ihr steht ein fürstlicher Holzschrank mit prächtigen Engadiner Rosetten. Eigentlich habe sie ja an die Kunstakademie gehen wollen, aber für das eher konservative Elternhaus sei das nicht in Frage gekommen, erzählt die Psychologin. Geboren wurde sie im oberfränkischen Ebermannstadt als jüngstes von drei Kindern – als Nachzüglerin war sie immer in der Obhut des einen, beträchtlich älteren Bruders. Die Psychologie habe sie am Gymi entdeckt. Im Latein punktete sie nicht gerade, erzählt Ehlert lachend, aber der Lateinlehrer unterrichtete zum Glück auch noch Psychologie als Wahlfach. Das fand sie spannend. Als sie mit 17, 18 Jahren von der Schule aus eine Praxisausbildung als Pflegehelferin im Spital machen konnte, war ihr Interesse geweckt: Sie wollte mit Menschen und Gesundheit zu tun haben. Allerdings fand sie, dass in der Medizin die psychologischen Aspekte im Umgang mit den Patienten zu wenig berücksichtigt werden – das gelte zuweilen bis heute.
So machte sie sich auf an die Universität Trier, wo sie Psychologie und Soziologie studierte. Die praktische Arbeit liess sie aber nie los, erzählt Ehlert. So jobbte sie auch in den Semesterferien weiterhin am Spital und in der Psychiatrie. Als sie dort eine – in den 1980er-Jahren noch seltene – Veranstaltung zur Verhaltenstherapie hörte, war auch die Fachrichtung klar. Mit tiefenpsychologischen Konzepten und Gesprächstherapieformen konnte sie wenig anfangen. «Ich bin kognitive Verhaltenstherapeutin, keine stille, immer empathische Zuhörerin», sagt Ehlert. Sie möchte die Dinge anpacken, mit den Patienten an ihren Einstellungen arbeiten, Verhalten ändern.
Gestern kam der Sohn mit auf eine Schneeschuhwanderung durch die wunderschöne weisse Engadiner Landschaft. Ehlert, die mit 23 heiratete und ein Jahr später ihr erstes Kind bekam, hat heute zwei erwachsene Kinder. Schon als junge Frau hat sie eine eigene psychiatrische Praxis betrieben, gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann, der Psychiater war. Als 28-Jährige promovierte sie über Schizophrenie, zehn Jahre später wurde sie an der Universität Trier habilitiert, kurz darauf 1999 folgte der Ruf an die Universität Zürich.
Temporäre Vernachlässigung
Ehlert denkt kurz nach und nickt. Im Nachhinein betrachtet war es sicher eine anstrengende Zeit. Ihr Mann ist früh gestorben, sie ging zurück an die Universität und durchlief die akademische Karriere als alleinerziehende Mutter. «Ich bin ein Mensch, der einfach macht», sagt sie. Kann sein, dass Schicksalsschläge resilienter machen. Andererseits hat sie wohl ein gesundes Stressmanagement. Auch später in Zürich, unterdessen mit einem neuen Partner und dem zweiten Kind, lebt sie nach der Devise der «temporären Vernachlässigung» – entweder war sie mit den Kindern zusammen, dann brauchte sie sich nicht um die Arbeit zu kümmern, oder umgekehrt.
Überhaupt seien der praktische Lebensbezug und der offene Horizont wichtige Faktoren – auch in der Wissenschaft, findet Ehlert. Wenn sie auf ihren akademischen Lebensweg zurückblicke, sei es einer ihrer wichtigsten Erfolge, das Scientist – Practitioner Model in der akademischen Ausbildung etabliert zu haben. Nach diesem Modell sollen Doktorierende an ihrer Dissertation schreiben und gleichzeitig praktisch arbeiten können. Während sie sich auf ihrem Werdegang praktische Erfahrungen noch selber holte, indem sie konsequent immer wieder in der Psychiatrie arbeitete, ist es ihr als Leiterin der postgradualen Weiterbildung gelungen, den Bezug zur Praxis für die heutigen Doktorandinnen und Doktoranden zu institutionalisieren. Diese absolvieren ihr Graduiertenprogramm, behandeln parallel dazu Patientinnen in Belastungssituationen, etwa in der Geburtshilfe am Universitätsspital, und machen eine psychotherapeutische Weiterbildung. So sind die Nachwuchskräfte am Schluss ihrer Ausbildung mit der Dissertation wissenschaftlich qualifiziert und haben zugleich eine Ausbildung als Psychotherapeutinnen und -therapeuten. Ehlert selbst behandelt heute noch einige Patienten im Ambulatorium für kognitive Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin, das sie leitet.
Sinn fürs Schöne
Und wenn es der Psychologin nun doch einmal zu viel wird? Dann geht sie in den Garten. In ihrem Garten in Uetikon muss es im Sommer wunderbar duften. Neben den Buchsbäumen ranken sich farbenprächtige Magnolien und Rosen. Da kommt es schon mal vor, dass sie mit zerkratzten Armen zur Vorlesung kommt. Sie schmunzelt. Es war ein guter Entscheid, Psychologie zu studieren, statt an die Kunstakademie zu gehen. Der Sinn fürs Schöne ist ihr geblieben. Das Kreative hat sie immer begleitet, und sei es bei der Gestaltung der Etiketten, die sie auf die selbstgemachten Marmeladengläser klebt. «Das mach ich gern und es schaut auch gar nicht so schlecht aus», schmunzelt Ehlert. Sagt’s und verschwindet im Arbeitszimmer zur nächsten Zoomsitzung oder – je nach Jahreszeit – auf die Loipe oder in den Garten.
Die Autorin Simona Ryser ist freie Journalistin.
BERG ODER STRAND?
«Neue Ideen beim Jäten im Garten»
Welches ist die grösste Entdeckung Ihres Fachs?
Die grösste Erkenntnis der Psychoendokrinologie ist, dass sich körperliche Vorgänge und seelische Befindlichkeiten wechselseitig beeinflussen. Walter Cannon und später Hans Selye beschrieben die Bedeutung von Hormonen wie Adrenalin, Noradrenalin oder Cortisol für die Verarbeitung von Stress. In neuerer Zeit konnte belegt werden, dass es nicht nur Risikofaktoren für eine «schlechte» Stressverarbeitung gibt, sondern auch Schutzfaktoren für die Erhaltung der Gesundheit trotz Stress.
Wo sind Sie am kreativsten?
Kreativität bezieht sich auf viele Lebensbereiche. Wissenschaftlich zündende Ideen, weiterdenken in eine neue Richtung, entsteht im Gespräch mit Kollegen und beim Zuhören. Oft kommen die neuen Ideen aber auch dann, wenn ich etwas ganz anderes mache. Also nicht am Schreibtisch, sondern zum Beispiel beim Zwiebelschneiden in der Küche oder beim Jäten im Garten. Mit den Händen kreativ sein ist in der Natur ganz einfach, das kommt von allein, schon wegen der Schönheit von Pflanzen.
Was machen Sie, um den Kopf auszulüften und auf neue Gedanken zu kommen?
In den Garten gehen und eine einfache Arbeit erledigen wie Verblühtes abschneiden oder zwischen den Rosen jäten. Homeoffice-freie Zeiten, ein bisschen mit Kolleginnen reden, die auch gerade einen Kaffee in der Küche im Institut oder im Ambulatorium trinken.
Mit welcher berühmten Persönlichkeit würden Sie gerne zu Abend essen und weshalb?
Mit Angela Merkel, weil es, obwohl ich Schweizerin bin, immer noch einen deutschen Anteil in mir gibt und weil sie jemand ist, die sehr vielen Widerständen sehr gut trotzen kann.
Drei Bücher, die Sie auf die einsame Insel mitnehmen würden?
Den Laptop, denn dann könnte ich mich kreuz und quer durch alles lesen und könnte auch noch etwas aufschreiben.
Kugelschreiber oder Laptop?
Bleistift, weil ich mit Kugelschreiber eine sehr schwer nachvollziehbare Handschrift habe.
Berg oder Strand?
Berg, weil es am Fuss von Bergen meist auch einen See hat. So gibt es möglicherweise Berg und Strand zusammen. Im Übrigen habe ich meine bisher einzige Seeüberquerung in einem Bergsee absolviert (Lej da Marsch, geschätzt 100 m breit und 50 m lang).